Das Material

Wer wir sind, was wir tun

Die Fotogruppe ein:blick besteht seit ca. 15 Jahren. Ihr gehören die Biologin Amrei Ettemeyer, die Romanistin Britta Knäbel, die Chemielaborantin Petra Rauer, der Sozialwissenschaftler Hans Reimann sowie der Bauzeichner Stephan Scheibel an. Ich, Hartmuth Schröder, Fotograf und Dozent für Fotografie, begleite diesen Zusammenschluss engagierter Fotograf*innen von Beginn an als Coach. Wir treffen uns monatlich und geben uns Themen, mal kurzfristige Aufgaben, mal langfristige Projekte, und diskutieren über die jeweiligen Bildergebnisse. Wir sprechen über Fotografie und Fotograf*innen, besuchen Ausstellungen und machen gemeinsame Fotoreisen.

Zwei langfristige Projekte haben in den vergangenen Jahren bereits zu Ausstellungen geführt. Wir haben uns mit der Landschaft der Rhön beschäftigt. Danach war über 3 Jahre lang der Hunsrück unser fotografisches Ziel, wir haben seine spröde Landschaft ins Bild gesetzt und ein typisches Dorf und seine Bewohner portraitiert. Unsere Arbeiten wurden in drei parallelen Ausstellungen vor Ort präsentiert.

Seit nunmehr 1 1⁄2 Jahren gilt, unter dem Arbeitstitel Randnotizen, dem Stadtrand Frankfurts unsere Aufmerksamkeit. Im Uhrzeigersinn erkunden wir mit der Kamera die Übergänge von Stadt zu Land. Leitlinien sind die sternförmig aus der Stadt hinausführenden U- und S-Bahn-Linien sowie die großen Ausfallstraßen, denn erst mit diesen Verkehrswegen konnte sich die Stadt zu den Rändern hin ausdehnen. Es entstanden neue Wohngebiete, z.B. Gartenstädte der 1920er Jahre (Westhausen) und – im Zentrum der Städte nicht (mehr) gewollte – Gewerbeflächen (z. B. Eschborn, Rödelheim) und andere „unangenehme“ Einrichtungen (Mülldeponien, Kläranlagen etc.).

Unsere Aufnahmen haben wir Mitte des Jahres 2022 in einer Ausstellung gezeigt.

Inhaltliche Anregung zu diesem Projekt war uns die Publikation Am Rand Um ganz Berlin von Paul Scraton. Die folgenden Zitate stammen aus diesem im Verlag Matthes & Seitz erschienenen Erzählband:

  • „In England entsteht in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Begriff rurban, eine Mischung aus rural = ländlich und urban = städtisch. Das Wort war notwendig geworden, ..., um diesen neuen Ort zu definieren, der sich an den Gleisen entlang entwickelt hatte, für diese Art von Siedlung, die weder Stadt noch Land, sondern eine Kreuzung von beidem war.“
  • Und noch ein weiterer Begriff taucht auf: edgelands. „Die Schriftstellerin und Aktivistin Marion Shoard nannte sie (diese Übergänge) edgelands und beschrieb damit die Grenzgebiete, die weder wirklich ländlich noch wirklich städtisch sind. Die edgelands – das sind Gewerbegebiete und Müllhalden, Golfplätze und Einkaufszentren. Manchmal wirken sie ungeplant und ganz sicher sind sie meist ungeliebt, und dennoch fordert Shoard uns dazu auf, sie zu zelebrieren, zu preisen und zu feiern, Kunst und Schönheit in den Lagerhallen und Logistikzentren, den Autobahnkreuzen und Kleingärten zu entdecken.“
  • „Die Außenbezirke und ihre sogenannten Grenzgebiete waren noch etwas anderes: ein Ort, an den man aus der Stadt konnte, ohne dabei die Stadtgrenzen ... verlassen zu müssen. Ein Ort, an dem man sich seine eigene kleine Welt erschaffen konnte. Ein Ort für Subkulturen und Randinteressen.“ Und weiter: „Wiederum eine klassische edgeland-Szene, wo Kids Höhlen bauen konnten, wenn sie jünger waren, wo sie Bier trinken und Hasch rauchen konnten, wenn sie älter wurden. Kanäle und Flussufer sind ebenso wie leer stehende Gebäude und Brachland der perfekte Tummelplatz für die Jugend. Orte, die die Kids für sich erobern können ... Ort(e), an denen sie aus den wachsamen Augen der Erwachsenen entlassen sind.“ Allerdings können wir heute sagen, dass solche Phänomene bestenfalls temporär existieren, meist solange noch Bauarbeiten bestehen. Ist erst mal alles „glattgebügelt“, verschwinden solche Freiräume schnell.
  • Es gibt an den Übergängen von Stadt und Land also Wohngebiete und Gewerbe- bzw. Handelsplätze. Welche Bedeutung ein Wohngebiet hat, ist klar. Aber wie verhält es sich mit den seelenlosen Industrie-„Parks“? Hierzu ein weiteres Zitat: „Der französische Anthropologe Marc Augé schrieb, dass ein Ort eine Bedeutung haben müsse, um als Ort zu gelten. Er müsse einen Bezug haben, beispielsweise einen historischen, und auf irgendeine Art und Weise mit einer Identität befasst oder verbunden sein. Und ein Ort, der diese Bedeutung eben nicht hat, der die Dimension des Bezugs oder der Wechselwirkung, die unsere Identität jenseits einer spezifischen Funktion oder eines Zwecks formt, nicht besitzt, ist für Augé ein Nicht-Ort. Die Nicht-Orte sind ein Produkt der Ultramoderne und in der Mehrzahl der Fälle vergänglich.

Sie bieten weder die Möglichkeit zum Gemeinschaftlichen, noch fördern sie unsere Identität. An ihnen sind wir anonym, an ihnen werden unsere Rollen durch ein bestimmtes Ereignis definiert. An einem Flugplatz sind wir Passagiere. Im Hotel sind wir Gäste. Und wo ich an Werbeplakaten für Sonderangebote und Finanzierungsvorschläge vorbeiging, war ich ein Kunde. An solchen Nicht-Orten haben wir keine Identität außer dieser vorübergehenden und eingeschränkten Funktion, und sie bieten uns auch keine Möglichkeit, eine zu entwickeln. ... Der Stadtrand ist voller Augéscher Nicht-Orte.“

– Aber da gibt es auch noch den von dem deutschen Architekten und Stadtplaner Thomas Sievert geprägte Begriff der Zwischenstadt. „Der Ort, der weder Stadt noch Land ist, aber dennoch ein Ort, ein eigenständiger Ort mit eigener Geschichte, eigener Kultur ... diese Orte sind keineswegs Leerstellen.“ Ein typisches Beispiel zwischenstädtischer Strukturen nach Sievert ist der Ballungsraum Frankfurt Rhein/Main. Sie (die Zwischenstadt) besitzt meist keinen historischen Siedlungskern und ist in kurzer Zeit entstanden. Siehe z. B. Riedberg.

Lektüreempfehlung zur Ausstellung:

  • Ulrich Wüst, Randlage. Die Gemeinde Nordwest Uckermark. Mit einem Text von Saša Stanišić. Edition Braus, Berlin 2019
  • Gregor Hens, Die Stadt und der Erdkreis. Erkundungen. Die Andere Bibliothek, Berlin 2021
  • Das Urbane im Peripheren. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Europäischen Architekturbild Preises 2021 im Deutschen Architekturmuseum, Frankfurt am Main
  • Marc Augé, Nicht-Orte, C.H.Beck, München 2019
  • Paul Scraton, Am Rand um ganz Berlin, Matthes & Seitz, Berlin 2020
  • Thomas Sieverts, Zwischenstadt, Birkhäuser Verlag, Basel 2008

Hier können Sie die Projektbeschreibung als PDF herunterladen: Projekt »Wo beginnt die Stadt«