Frankfurt: Wo beginnt die Stadt?
Besichtigung einer Gegend
Fotografische Skizzen zu den Übergängen von Stadt und Land in Frankfurt und Umgebung. Die Gruppe ein:blick richtet ihr Augenmerk sowohl auf die Unterschiede als auch das Gemeinsame der Stadtrandentwicklung. Ländliche Strukturen werden zurückgedrängt oder vermischen sich mit urwüchsigen Neubausiedlungen, kompakten zu Stein gewordenen Einkaufsparadiesen sowie Industrieansiedlungen. In den vergangenen 2 Jahren sind etwa 80 Bilder rings um Frankfurt entstanden, die aufgrund des ständigen Wandels der Grenzgebiete heute bereits zum Teil wieder Geschichte sind.
Einführungsrede zur Ausstellung
Sehr geehrte Damen und Herren,
mir kommt die schöne Aufgabe zu, die Fotografien, die wir hier sehen, zu deuten.
Frankfurt – Wo beginnt die Stadt? hat die Fotogruppe ein:blick ihre Ausstellung genannt. Genauso könnte man auch fragen: Wo hört die Stadt auf? Und hört sie überhaupt auf? Und was beginnt danach? Wer wie ich als Planerin auf diese Fotos schaut, denkt sofort an „Zwischenstadt“. Die Stadt von heute hat keine klaren Grenzen, keine präzise definierten Ränder mehr.
Thomas Sieverts, Stadtplaner und Professor emeritus an der TU Darmstadt, hat den Begriff der Zwischenstadt geprägt. Mit seinem Buch „Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land“ aus dem Jahr 1997 löste er eine breite Debatte in den planenden Disziplinen aus. Zwischenstadt ist dabei kein normativer Begriff, keine Idee davon, wie Stadt am Übergang zur Landschaft sein sollte. Vielmehr ist es ein analytisch-beschreibender Begriff, um ein Phänomen zu fassen, dass in vielen Ballungsräumen zu finden ist. Die Planungsdisziplinen versuchen seit Jahrzehnten, dieses Dazwischen zwischen planvoll angelegter Stadt und umgebendem Landschaftsraum, zwischen mehr oder weniger kompaktem Stadtkörper und der Kulturlandschaft präzise zu benennen. Wir bezeichnen dieses Zwischenreich auch als Suburbia, urbane Landschaft, Stadtlandschaft und urban sprawl.
Thomas Sieverts beobachtete in den Neunziger Jahren die Auflösung der kompakten Europäischen Stadt und das Entstehen „einer ganz anderen, weltweit sich ausbreitenden neuen Stadtform: Der verstädterten Landschaft oder der verlandschafteten Stadt“. Er schreibt: „Ich nenne diese Form zur Vereinfachung Zwischenstadt. Es ist die Stadt zwischen den alten historischen Stadtkernen und der offenen Landschaft, zwischen dem Ort als Lebensraum und den Nicht-Orten der Raumüberwindung, zwischen den kleinen örtlichen Wirtschaftskreisläufen und der Abhängigkeit vom Weltmarkt.“
Dieses Phänomen hat die Fotogruppe ein:blick interessiert – ganz ohne Planungshintergrund. Fünf Menschen, deren gemeinsame Leidenschaft die Fotografie ist, fanden vor rund 15 Jahren zusammen. Seither erkunden sie gemeinsam Orte, Räume und Regionen und schauen dabei mit sehr unterschiedlichen Brillen auf ihr Objekt – mit dem Hintergrund einer Biologin, einer Romanistin, einer Chemielaborantin, eines Sozialwissenschaftlers und eines Bauzeichners. Hartmut Schröder begleitet die Gruppe als professioneller Fotograf. Längerfristige Projekte, etwa zur Landschaft der Rhön und zum Hundsrück, mündeten bereits in gemeinsame Ausstellungen.
Anderthalb Jahre lang haben die 5 nun den Stadtrand von Frankfurt fotografiert. Systematisch – nämlich im Uhrzeigersinn – umrundeten sie die Stadt. Als strukturierendes, Orientierung gebendes Element dienten ihnen die sternförmig aus der Stadt herausführenden U- und S-Bahn-Linien und die großen Ausfallstraßen, entlang derer Frankfurt einst gewachsen ist.
Die Zwischenstadt ist nicht geplant, und selten wird sie – so wie hier – als ästhetisches Objekt wahrgenommen. Das ändert sich interessanterweise, wenn man sich dem gleichen Phänomen von der anderen Seite her nähert: von der Landschaft aus. Landschaft ist schön, zumindest suchen wir nach dem Schönen in ihr, selbst wenn sie spröde ist, durchzogen von Infrastrukturen, geprägt von Gewerbegebieten und der Silhouette von Großwohnsiedlungen.
Auch andere haben sich mit dem ästhetischen Phänomen des Stadtrandes von Frankfurt schon beschäftigt. 2010 eröffnete der Regionalpark Rhein-Main die Ausstellung „Landschaft auf den zweiten Blick“ in seinem Besucherzentrum in Flörsheim. Sie ist dort immer noch zu sehen. Auf mehr als 60 Monitoren werden Bilder des australisch-deutschen Fotografen Joachim Froese präsentiert. Seine Fotografien stellen unsere gewohnten Sichtweisen auf das Rhein-Main-Gebiet in Frage und suchen nach dem besonderen Reiz dieser Landschaft zwischen Stadt, Infrastruktur und Industrie. Während die Fotogruppe ein:blick also von der Stadt ausging, schaute Joachim Froese von der Landschaft aus. Beider Interessen treffen sich im Menschengemachten dieser Stadtlandschaft. „Interessant wird es immer dann, wenn Menschen an einem Ort waren“, so schilderte Amrei Ettemeyer mir ihren Zugang zu den porträtierten Orten. Dabei tauchen Menschen in den Bildern fast nicht auf. Implizit sind sie jedoch allgegenwärtig. Was die Fotos zeigen, ist eine von Menschen gestaltete, gebaute, im Zusammenspiel ihrer Elemente jedoch selten absichtsvoll geplante und somit vielfach einfach „passierte“ Umwelt.
Die Fotografien lenken den Blick auf das planvoll Angelegte ebenso wie das zufällig Entstandene, das intensiv Genutzte wie das Liegengebliebene. Sie öffnen uns die Augen für das, was wir als selbstverständlich wahrnehmen. Während der Fotograf Joachim Froese nach „Schönheit“ in einem Raum suchte, der unseren Idealvorstellungen von schöner Landschaft zunächst nur wenig entspricht, geht es interessanterweise eher nicht um Schönheit, wenn man von der Stadt aus schaut. Vielmehr scheint das Alltägliche im Mittelpunkt zu stehen. Das, was viele von uns ihre Heimat nennen. Heimat muss nicht schön, sie muss vor allem vertraut sein. Aber auch wiedererkennbar. Könnten die porträtierten Orte überall sein? Sind es somit Nicht-Orte im Sinne des Ethnologen Marc Augés? Oder anders gefragt: Wann blitzt der Frankfurter Kontext in den Bildern auf? Was macht das spezifische Raumbild dieser Stadt und ihres Randes aus? Haben wir noch andere „Zeichen“ für Frankfurt als die Skyline? Der neue Henninger-Turm taucht auf. Der Messeturm, der Ginnheimer Spargel, die EZB. Über Landmarken orientieren wir uns und wissen, wo wir sind. Der Main spielt dagegen kaum eine Rolle – Wasser prägt den Frankfurter Stadtrand eher nicht.
Die Bilder scheinen ein Image der Stadt Frankfurt zu bestätigen, das sich hartnäckig hält. Grün kommt in diesem Bild kaum vor. Doch Deutschlands einzige global city wird nicht nur von einem Regionalpark umgeben, der sie mit den Umlandgemeinden verbindet. Frankfurt hat auch einen GrünGürtel am Übergang zur Landschaft. Nach dem Anlagenring und dem Alleenring ist er die dritte und größte Grünzäsur im städtischen Gewebe: ein achtzig Quadratkilometer und damit ein Drittel des Stadtgebiets umfassender Freiraum. Planer:innen haben in Frankfurt bereits über Jahrzehnte hinweg Anstrengungen unternommen, um der Zersiedlung des Umlandes Einhalt zu gebieten und den Freizeitwert der Landschaft zu steigern.
Ich selbst schaue auf die hier gezeigten Fotografien als Landschaftsarchitektin und damit als jemand, die in der gebauten Umwelt stets nach Gestaltqualität sucht – und nach Natur. Beides spielt in dem Gezeigten nur eine untergeordnete Rolle. Ich schaue die Bilder aber auch als Hobbyfotografin an, die wie die Fotogruppe ein:blick mit der Kamera durch Frankfurt und Umgebung streift und nach Prägnantem und Interessantem sucht. Und ich schaue sie als Berlinerin an, der diese Landschaft auch nach 13 Jahren noch nicht gänzlich vertraut ist. Als ich nach Frankfurt zog, war es ausgerechnet Hartmut Schröder, der mich in einem Kurs an der Volkshochschule zu den weniger bekannten Orten im Rhein-Main- Gebiet mitnahm.
Mit solchen Räumen in Resonanz zu treten ist deutlich schwieriger als mit den lebensprallen Orten wie dem Mainuferpark. Der Stadtrand scheint keine Identität zu haben. Qualitätvolle Architektur und eine attraktiv gestaltete Umwelt scheinen der Stadt selbst vorbehalten zu sein.
Welche Idee von Stadt steckt in den Bildern dieser Ausstellung? Wieviel Moderne steckt im hier porträtierten Übergang zwischen der Stadt und der Landschaft? Wieviel Autogerechte Stadt, wieviel Funktionstrennung als das Erbe der Charta von Athen, jenem Traktat, das unter Federführung des Architekten Le Corbusier entstand und die Stadtentwicklung nach dem II. Weltkrieg so stark geprägt hat. Mit dem Resultat, dass uns das Entstandene heute als „normal“, ja sogar alternativlos erscheint. Soziolog:innen nennen das Naturalisierungseffekt. Aber alternativlos ist es nicht, und so ist diese Ausstellung auch das perfekte Medium, um uns zum Nachdenken zu bringen. Die Bilder halten uns einen Spiegel von unserer gebauten Umwelt vor. Unser Lebensraum ist hochgradig kontrolliert, oft vollversiegelt und von Monostrukturen geprägt – bis in die Agrarlandschaft hinein.
Auch wenn dies vielleicht nicht die Intention der Fotogruppe ein:blick war: Wir können die Fotos als Aufruf lesen, unserer gebauten Umwelt mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ihrem Entstehen mehr Sorgfalt, ihrem Erscheinungsbild mehr Poesie. Gerade die Übergänge zwischen Stadt und Landschaft könnten deutlich weicher werden. Soft edges nennen das die Urbanisten Jane Jacobs, Richard Sennett und Jan Gehl. Sie meinen dabei zwar die Übergänge innerhalb der Stadt, die Schwellen zwischen den verschiedenen Funktionsbereichen und Nutzungsformen. Diese Ränder werden zumeist nachlässig behandelt oder ganz vergessen. Dabei könnten sie ein eigener, spannender Raumtypus sein, der verbindet statt trennt und der Dinge bietet, die andere Räume nicht haben. Auch Frankfurts Stadtrand könnte das.
Wir treten gerade in eine neue Epoche der Stadtentwicklung ein, die vom Klimawandel und der Mobilitätswende geprägt ist. Im öffentlichen Diskurs und in den Fachdebatten verabschieden uns von den Irrtümern der Funktionalistischen Moderne und denken die Stadt vom Menschen her. Und auch von der Natur her: Was wäre, wenn statt steingefüllter Gabbionenwände grüne Hecken den Übergang zur Landschaft prägten? Wenn viel mehr Grün die Gewerbegebiete durchzöge? Wenn Gärten und produktives Grün der unterschiedlichsten Art die Ränder von Frankfurt säumten, wie es uns Oberrad längst vormacht? Wenn dadurch nicht nur spannende Sozialräume, sondern auch Lebensräume für Tiere und Pflanzen entstünden und wir der Biodiversitätskrise aktiv begegnen würden? Als jemand aus den gestaltenden Berufen sehe ich auf den Fotos vor allem eins: Potenzial. Als Mitglied des Frankfurter Städtebaubeirats wünsche ich mir mehr öffentliche Debatte über die Qualität unserer gebauten Umwelt – in der Innenstadt wie am Stadtrand gleichermaßen.
Ich schaue also mit verschiedenen Rollen auf diese Ausstellung. Wir alle tun dies. Möge sie uns die Augen auf ganz unterschiedliche Weise öffnen.
Constanze Petrow, 01.06.2022